Was mir geholfen hat, meine Zwänge zu überwinden
Hallo Ihr Lieben!
Ich habe im Alter von etwa 15 bis 18 Jahren unter Zwangsneurosen von variierender Stärke gelitten. Jetzt bin ich 21, und - zur Zeit damals hätte ich niemals erwartet, das jemals von mir sagen zu können! – in keiner Weise mehr von meiner Krankheit beeinflusst.
Ich hoffe, dass meine Erfahrungen anderen Betroffenen Mut machen, und ihnen helfen, das Gute in sich zu erkennen und nicht aufzugeben, auch wenn alles absolut hoffnungslos scheint.
Mich persönlich hat es immer sehr gerührt, von anderen Betroffenen zu lesen und sich einmal von Mensch zu Mensch, von jemandem, der tatsächlich dieselbe Erfahrung gemacht hat, verstanden zu fühlen, wenn der Rest der Welt das nicht tut, egal wie man sein Handeln erklärt.
Wenn man unter Zwangsneurosen leidet, weiß man, dass die rationalen, gut gemeinten Argumente der Mitmenschen, die einem die Handlungen ausreden wollen, nicht ankommen. In zahlreichen Gesprächen, hauptsächlich mit meinem Psychologen, aber auch Handlungssituationen, gab es bei mir jedoch einige „Aha-Momente“, Argumente, die tatsächlich zu mir durchgedrungen sind und die es geschafft haben, meine Sichtweise ein wenig zu ändern. Ich versuche, diese in diesem Post zu rekonstruieren und hoffe, dass diese vielleicht beim ein oder anderen auch ins Schwarze treffen, und etwas Erleichterung schaffen können.
Ich will kurz beschreiben, welche Formen der Krankheit sich bei mir in welchem Ausmaße geäußert haben. Am längsten hat sich wohl der Waschzwang gezogen, am tiefsten saß immer die Angst anderen Menschen Krankheiten oder giftige Stoffe unabsichtlich zu übertragen oder zu verabreichen, die im schlimmsten Fall zu deren Tod führten. Ich schätze, ich habe mir in etwa 50x täglich die Hände gewaschen, wenn ich sie zu einer Faust geballt habe, sind blutige Risse entstanden.
Auch unter Zwangsgedanken verschiedener Art habe ich gelitten, sie habe ich als besonders aggressiv empfunden. Denn kann man den Wasch- oder Kontrollzwang vielleicht für einige Minuten, in denen man z.B. still daliegt ohne etwas zu berühren, zumindest kurz vor sich herschieben. Aber man kann nicht aus seinem Kopf aussteigen, man ist gezwungen jeden Moment mit sich selbst auszuhalten, auch wenn man überzeugt davon ist ein grausamer Mensch zu sein.
Ich bin oftmals mitten auf dem Weg zu Terminen wieder nach Hause gefahren um den Herd oder das Glätteisen zu kontrollieren, nur um festzustellen, dass alles ausgeschaltet war. Schalter für elektrische Geräte legte ich mehrmals um, bis ich mich beim Ausschalten ausreichend konzentriert hatte und die Erinnerung festgehalten hatte, manchmal half es nur die abgestellten Geräte inklusive Schalter zu fotografieren.
Ich hoffe das klingt nicht, als wolle ich Mitleid. Ich will aber das Ausmaß der Krankheit beschreiben, um Euch zu zeigen, dass es, je aussichtslos (denn das trifft das Gefühl genau!) Euch eure Situation vorkommen mag, eine Chance auf Besserung gibt! Ich hätte nie gedacht, jemals wieder Türklinken, den Boden oder Socken (!) berühren zu können, ohne mir die Hände und Unterarme (zeitweise auch die Badarmatur) waschen zu müssen, doch heute tue ich es ohne Nachzudenken. Das ist natürlich kein Fortschritt, der in einer Woche zu erreichen ist, aber wenn ich das geschafft habe, könnt ihr das auch!
Das Ganze ist ja nun schon eine Weile her und die Erinnerungen nicht mehr ganz so frisch, und ich kann natürlich nicht garantieren, dass Euch diese Punkte genauso helfen wie mir – doch ich denke, sie sind mir mit besonderem Grund in Erinnerung geblieben.
Ich habe einfach versucht, so gut wie möglich das zusammenzufassen, wovon ich glaube, dass es mir am meisten geholfen hat.
1. Wärest du tatsächlich ein so schlechter Mensch, wären dir nicht gerade dann all diese Risiken egal? Und du würdest das, was du fürchtest zu tun, nicht dann erst recht tun?
Würdest Du diese hypothetischen Gedanken überhaupt als so furchtbar belastend und zerstörend empfinden, wenn du ein schlechter Mensch wärst? Wäre es dir dann nicht egal, dass du anderen schadest?
Ein Zwangsneurotiker ist meistens der allerletzte Mensch, der die Handlungen, Gedanken oder Vorstellungen, die ihn abschrecken, tatsächlich ausführen würde.
Mein Psychologe sagte mir einmal, einem Fremden würde er kein Messer in die Hand geben und sich mit geschlossenen Augen vor ihn stellen. Aber mir würde er da, trotz dieser Gedanken, zu 100% vertrauen. Es tut gut, jemand anderen zu haben, der an das Gute in einem glaubt, wenn man selbst daran zweifelt.
Außerdem hat mir hierzu der Vergleich zum Alltag in der Welt geholfen. Ich bin niemand der Menschen schwarz-weiß sieht, in gut oder schlecht einteilt, ich versuche, das Gute in Menschen zu sehen oder ihre schadenden Handlungen zumindest nachzuvollziehen, nicht zu rechtfertigen, aber wenigstens Ursachen dafür zu finden. Und doch muss man nur einen Blick in die Medien werfen: Vergewaltiger, Mörder, Entführer, Menschen, die sich betrügen für Geld ... der einfache Gedanke: „Schau dir die einmal an. Sind das nicht viel eher schlechte Menschen als du?“ kann schon helfen.
2. Man erwartet eine Disziplin von sich selbst, die man anderen niemals abverlangen würde.
Mein Therapeut fragte mich, ob meine Mitmenschen ähnliche Handlungen ausführten wie ich, und natürlich verneinte ich. Im Anschluss fragte er, ob ich sie dafür verurteile – das tat ich natürlich nicht. Da wurde ich stutzig. Das hilft natürlich nicht viel gegen das Problem an sich, aber ich fand es überraschend, zu erkennen, wie viel härter ich mit mir selbst ins Gericht ging als mit anderen.
3. Speziell zu Zwangsgedanken
Zwangsgedanken zerstören einen richtig, so ist das einfach. Man spürt es, wenn eine neue Idee, eine neue Angst was man wollen könnte – sexuell abnormes, blasphemisches, sadistisches - aufkommt. Warum ist das in meinem Kopf? Will ich das? Wenn nicht, warum muss ich dann pausenlos daran denken?
Ich weiß, dass es mit dieser einfachen Antwort nicht getan ist, denn dann wäre die Therapie um einiges einfacher, und doch hoffe ich, es hilft euch vielleicht: ich habe vor allem im Nachhinein mit vielen Menschen geredet, und siehe da: zahlreiche hatte schon einmal eine „abnorme“ Idee, hatte ein Bild vor sich, in dem er sich selbst oder geliebte Menschen verletzte, tötete oder mit den abwegigsten Personen den abwegigsten Sex hatte. Das ist normal, das Gehirn macht nun mal ab und zu solche Gedankenspiele, und der einzige Unterschied zwischen den „gesunden“ Menschen und Neurotikern ist, dass die „anderen“ diesen Gedanken als normal abstempeln.
Siehe 1. – ein Neurotiker ist meistens der letzte, der je eine der Handlungen, die er auszuführen fürchtet, tatsächlich ausführt.
4. Konfrontation als wirksamste Therapie (das bezieht sich vor allem auf meine Erfahrung mit Waschzwang)
Und ich weiß, wie hart dieser Satz klingt. Wann immer mein Psychologe den Vorschlag gemacht hat, habe ich abgelehnt. Und doch muss ich sagen: Es ist die wirksamste Therapie.
Bei mir kam es dazu, dass meine damalige Beziehung auch aufgrund der Zwänge in die Brüche ging. Das war der Moment, in dem ich wusste, ich muss mich entscheiden – mich der Angst stellen oder meinen Partner verlieren. Ich denke, mir ist in dem Moment klar geworden, dass es tatsächlich noch schlimmere Dinge gibt, als die Angst vor nichtausgeführten Zwangshandlungen. (Je mehr Konfrontationen man hinter sich bringt, desto klarer wird einem das auch.)
Ich weiß genau wie unglaublich das klingt, doch wenn ihr es schafft, eine Handlung bewusst zu unterlassen, entspricht die tatsächliche Panik nach einer kurzen Zeit nicht mehr den Erwartungen, es ist viel besser! Traut euch!
Ich denke nicht, dass man mit den schlimmsten Ängsten beginnen sollte und ich finde es auch okay, zunächst Vertraute um Rat zu bitten, sich sagt, dass ihnen auch nichts passiert ist und letztendlich das Risiko eingeht. Natürlich soll man irgendwann selbst die Verantwortung übernehmen, aber oft kann man sich auch ableiten „Person X hat im Fall Y bewusst so gehandelt. Ich weiß dass er/sie ein guter/verantwortungsvoller/verlässlicher Mensch ist. Dann kann/darf ich das jetzt auch, ohne mir Vorwürfe machen zu müssen.“
Ich weiß wie unglaublich anstrengend das ist, doch einige Zeit nach der nicht erledigten Handlung dämmert es einem, dass das Risiko tatsächlich unwahrscheinlich gering war und man es, ohne sich Vorwürfe machen zu müssen, eingehen darf. Und das Gefühl ist mehr wert als alles Geld der Welt!
Ich bin außerdem überzeugt, dass man sich an immer „schwierigere Projekte“ herantrauen kann. Das erste „Anfassen“ von zunächst „leicht konterminierten“ Gegenständen hat dann eine richtige Lawine ins Rollen gebracht. Man fühlt sich auf einmal unglaublich stark!
Ich schätze innerhalb eines Vierteljahres waren die „härtesten Angewohnheiten“ weg, und etwa nach einem ganzen Jahr habe ich kaum einen Gedanken mehr an die Zwänge verschwendet, bis auf ein paar Erinnerungen.
5. Therapie
Mir persönlich hat eine Gesprächstherapie tatsächlich sehr geholfen. Falls Ihr noch nicht in Behandlung seid, schreckt nicht davor zurück und schämt euch nicht. Kein Forum kann eine speziell ausgebildete Person ersetzen, die Eurer Geschichte unvoreingenommen begegnet und individuell auf Euch eingehen kann.
Allerdings habe ich zwischendurch den Psychologen gewechselt, mit der ersten hatte ich irgendwie keine Verbindung, aber der zweite hat mir tatsächlich eine ganz neue Sicht auf die Dinge ermöglicht.